Gleichheit durch Fortschritt Published in "Die Zeit", October 2014

Veröffentlicht in: Die Zeit, Nr. 42/2014, 23. Oktober 2014

Manchmal haucht die neue Deutung wirtschaftlicher Zusammenhänge alten Ideologien wieder Leben ein. Vor zwei Generationen lieferten angebotsorientierte Wirtschaftstheorien konservativen Forderungen nach weniger Staat einen neuen wissenschaftlichen Unterbau – es war die Zeit von Stagnation und Inflation. Niedrige Steuern und geringere Staatsausgaben waren nicht mehr bloß eine politische Vorliebe, sondern wirtschaftliche Notwendigkeit.

Nun leben wir in Zeiten einer nur langsam abklingenden Wirtschaftskrise, auch in Deutschland ist die Verteilungsungleichheit eklatant. In dieser Lage verleiht Thomas Pikettys Buch »Das Kapital im 21. Jahrhundert« einigen eher linken Forderungen ähnlichen Auftrieb. Piketty beeindruckt mit umfassenden Daten zu wachsender Ungleichheit, provoziert mit dem Anspruch, diese über eine simple Formel zu erklären, und polarisiert, indem er extrem hohe Steuern auf Spitzeneinkommen und Vermögen fordert.

Im politischen Schlagabtausch rund um das Buch, das nun auf Deutsch erscheint, gehen die eigentlich brisanten Thesen jedoch unter: Erstens, Wachstum im 21. Jahrhundert wird nicht an das des vorherigen heranreichen; zweitens, Kapital wird Arbeit dauerhaft an Bedeutung und Einfluss übertreffen; drittens, Kapitaleigner versagen als Innovatoren. Kurz: Piketty bezweifelt, dass technologischer Fortschritt in diesem Jahrhundert das Wachstum antreiben und die Ungleichheit senken wird. Was ist dran an dieser Prognose?

»Produktivität ist nicht alles, aber auf lange Sicht beinahe alles«, erklärt der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman. Wenn Produktivität nicht wächst, kann auf längere Sicht auch die Wirtschaft nicht wachsen. Genau das erwartet Piketty. Er beruft sich dabei auf den Ökonomen Robert Gordon, der anhand historischer Daten behauptet, dass die digitale Revolution Produktivität weniger beeinflusst hat als Technologien wie die Dampfmaschine oder Elektrizität.

Und Thomas Piketty steht nicht allein mit seiner verhaltenen Prognose. Der Harvardökonom Larry Summers sagt der Welt eine »sekuläre Stagnation« voraus, der Wachstumsexperte Tyler Cowen befürchtet den »großen Stillstand«, und Mohammed El-Erian, ehemaliger Chef des globalen Anleiheninvestors Pimco, erkannte nach der Finanzkrise die »neue Normalität« niedrigen Wachstums.

Doch nicht alle stimmen zu. Gerade ist »The Second Machine Age« von Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee erschienen. Die beiden Wirtschaftsforscher der Eliteuni MIT bei Boston widersprechen all jenen, die das Ende des Fortschritts kommen sehen. Die digitale Revolution werde die Produktivität grundlegend verändern, so die Autoren. Aber das dauere eine Weile, wie früher auch, als man Jahrzehnte warten musste, bis etwa für die Elektrizität die richtiten Anwendungen und Strukturen entstanden. Wir neigen dazu, so einmal Bill Gates, die kurzfristigen Effekte technologischen Wandels zu überschätzen – und gleichzeitig ihre langfristigen zu unterschätzen.

Pikettys zweite These ist, dass Kapitalerträge dauerhaft schneller wachsen können als die Volkswirtschaft, in der sie erwirtschaftet werden. Da Kapital ungleicher verteilt ist als Arbeit, besitzen daher im Ergebnis weniger Menschen immer mehr. Die Zahlen sprechen dafür: In den USA hat sich die Wirtschaftskraft seit den frühen Siebzigern verdoppelt, während die Mittelschicht kaum zulegen konnte. In Deutschland ist das mittlere Einkommen seit der Jahrtausendwende sogar leicht gesunken.

Ausgehend von solchen Daten widerspricht Piketty der Aussage, dass in Wissensgesellschaften die Bedeutung von Arbeit gegenüber Kapital zunähme. Natürlich ist Humankapital wichtig, so der Autor, doch Industrie-, Finanz- und Immobilienkapital werfen mindestens genauso hohe Erträge ab. Der proklamierte Wandel vom Kapitalismus zum »Talentismus« findet nicht statt.

Was aber, wenn Fortschritt nicht an Schwung verliert? In der Vergangenheit war das klassische Argument, dass Arbeitsplätze, die in dynamischen Volkswirtschaften dem Fortschritt weichen, anderswo durch bessere ersetzt werden. Dieses Gesetz scheint jedoch heute oft nicht mehr zu gelten: Im Jahr 1960 war der größte Arbeitgeber der USA, General Motors, zugleich der am besten zahlende; heute sind gering zahlende Einzelhandels- und Fastfoodketten die Hauptarbeitgeber. Auch in Deutschland wachse der Niedriglohnsektor stark, so die Industrieländerorganisatio OECD. Kein Wunder, die digitale Revolution polaridiere den Arbeitsmarkt, sagen weitere MIT-Forscher: Die Nachfrage nach körperlichen wie auch nach geistigen Routineaufgaben sinkt demnach, während die nicht routinisierten Aufgaben am oberen wie am unteren Ende der Einkommensverteilung gefragter denn je sind.

Bynjolfsson und McAfee argumentieren, dass wir lernen müssten, sich auf die Maschinen einzulassen statt mit ihnen zu konkurrieren, um einer weiteren Polarisierung entgegenzuwirken. Mit den richtigen Fähigkeiten und Kompetenzen, so ihre Vision, könnten Mensch und Maschine dann Ergebnisse erzeugen, die keine Seite allein zustande brächte. Anders gesagt: Auch wenn der Wandel vom Kapitalismus zum »Talentismus« nicht stattfindet, so werden Mensch und Maschine ohne bessere Bildungsinhalte, Methoden und Zugänge doch in einen Wettstreit eintreten, der dem Einzelnen schadet und gesellschaftliche Entwicklung im Ganzen bremst.

Diese Gefahr ist durchaus real: In den Vereinigten Staaten hinken Kinder von vier bis fünf Jahren, die aus unteren Einkommensschichten kommen, den Kindern reicher Leute um zwei Jahre in der Entwicklung hinterher. Und die Wahrscheinlichkeit, weiterführende Schulen zu besuchen, ist bei Kindern aus wohlhabenden Schichten doppelt so hoch wie bei solchen aus ärmeren. Auch in Deutschland wird hochwertige Bildung immer mehr zu einem Wohlstandsprivileg. Dabei ist klar: Ohne Zugang zu Bildung wird technologischer Fortschritt als Mittel gegen steigende Ungleichheit versagen.

Pikettys letzte und vielleicht schwierigste These legt nahe, dass Kapitalisten als Innovatoren versagen. Sie beanspruchen demnach immer mehr vom Kuchen, ohne den Kuchen zu vergrößern. Dies folgt aus der Prognose niedrigen Wachstums gepaart mit der Annahme, dass Renditen erzielt werden, indem Arbeit einfach kostengünstig durch Kapital ersetzt wird. Die setzt freilich voraus, dass der technologische Fortschritt einfach stattfindet, egal was Unternehmer tun – eine problematische Sichtweise.

Natürlich ist der Ersatz von Arbeit durch bessere und effizientere Maschinen auch eine Art Innovation. Sie unterscheidet sich aber, so der Harvard-Professor Clayton Christensen, von solchen, die mit neuen Produkten und Leistungen langfristig Wachstum und Beschäftigung schaffen. In einer gesunden Volkswirtschaft ergänzen sich beide Arten: Effizienzsteigernde Innovationen setzen Kapital für solche frei, die zukünftiges Wachstum ermöglichen. Heute aber, argumentiert Christensen, ist dieser Kreislauf gestört: Erträge von effizienzsteigernden Innovationen werden in immer mehr Effizienz gesteckt. Geld wird zu Geld, nicht zu Wachstum. Für Ökonomen wie Christensen liegt das Problem daher nicht in der Anhäufung von Kapital, sondern in dessen Verwendung.

Betrachtet man die Lage so, dann kommt man auf andere Lösungen im Kampf gegen die Ungleichheit. Piketty spricht sich für eine höhere Besteuerung von Einkommen und Vermögen aus, um die Nachfrage zu steigern: Eine ausgeglichenere Verteilung des Wohlstands würde einen anhaltend höheren pro-Kopf-Konsum ermöglichen. Christensen hingegen würde längerfristige Investitionen geringer oder gar negativ besteuern, um die richtigen Anreize für Wachstum und Jobs zu setzen.

Am Ende gilt: Nur wenn direkte Maßnahmen zur Stärkung der Nachfrage mit Anreizen für Investitionen in langfristiges Wachstum gepaart werden, kann extreme wirtschaftliche Ungleichheit nachhaltig bekämpft werden. Und nur wenn mutige und neuartige Denkansätze wie der von Piketty nicht missbraucht werden, um alte Wettkämpfe politischer Ideologien neu zu entfachen, können sie helfen eine intelligentere und gerechtere Wirtschaftsordnung zu schaffen.

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